Johannes Ockeghem et Heinrich Finck
Meisterwerke eines Stilwandels

Heinrich Finck (ca. 1445 – 1527)

Petre, amas me?

Missa super Ave praeclara (4 – 6 Stimmen)
Kyrie
Gloria
Credo
Sanctus
Agnus Dei

 

Das Programm verbindet zwei Komponisten, deren Werdegang und Rezeptionsgeschichte kaum unterschiedlicher sein könnte: hier mit Ockeghem der weltgewandte Komponist des französischen Königs, berühmter Wegbereiter der franko-flämischen Polyphonie und schon zu Lebzeiten Legende, dort Finck, ein überaus begabter Komponisten deutscher Sprache, der zunächst in Krakau, dann in Stuttgart und zuletzt in Wien wirkte und eher am Rande, denn im musikalischen Zentrum wirkte. Und doch ist der Vergleich ungemein interessant, denn Ockeghem wie Finck haben ihre Wurzeln spürbar im spröden Charme der Musik des 15. Jahrhunderts und bemühen sich, zu neuen Klängen und Formen vorzudringen, wobei sie eine große Originalität und Meisterschaft entwickeln.
Ockeghems Totenmesse ist - soweit derzeit bekannt - die älteste erhaltene mehrstimmige Vertonung des Requiem-Textes. Sie ist im Chigi-Codex der Biblioteca Vaticana überliefert und steht dort als letzte der Messen Ockeghems. Die Totenmesse wurde in der Renaissance selten vertont. Das mag an ihrer strengen liturgischen Bindung und möglicherweise auch an der dadurch gebotenen Zurückhaltung gelegen haben. Mit denkbar komprimierten Mitteln entwirft Ockeghem in seinem Requiem ein Konzept, das diese Zurückhaltung zeigt, aber auch die Tiefen des Textes auslotet. Stets ausgehend von den Choralmelodien beginnt er nach der Choralintonation den Introitus "Requiem aeternam" in nur dreistimmigem Satz mit Anklängen an den Fauxbourdon. Dabei zeigen bei näherem Hinhören vor allem die beiden Unterstimmen eine erstaunliche Beweglichkeit in der Stimmführung. Es folgt der Vers "Te decet hymnus", der als Lobgesang in etwas höherer Lage erklingt, bevor der Introitus zurückkehrt. Das Kyrie beginnt ebenfalls dreistimmig, dann wechseln zwei- und dreistimmige Abschnitte, bevor beim letzten Kyrie-Ruf nach 13 Takten der Baß erstmals hinzutritt und so ein klanglicher Höhepunkt den Huldigungsruf beschließt.
Der Text des Graduale "Si ambulem in medio umbrae mortis" findet sich nicht mehr in der heute gebräuchlichen Totenmesse, die ihre Fassung erst durch das Trienter Konzil erhalten hat. Erneut beginnt nach einer Choralintonation ein dreistimmiger Satz, der indes deutlich komplexer ist. Die Schatten des Todes, von denen der Text spricht, mögen hier die ausdrucksstarken Melodien der Unterstimmen inspiriert haben. Der folgende Vers "Virga tua" mit zwei weit auseinanderliegenden Stimmen verlangt die Stütze, von der im Text die Rede ist und die bei der Textstelle "me consolata sunt" Bariton und Baß – mit ihren dunklen Stimmen Trost sprechend - geben. Wie im Kyrie setzt Ockeghem auch hier durch die Vierstimmigkeit einen Schlußakzent.

Der Text des Tractus "Sicut cervus desiderat ad fontes aquarum“ stammt aus dem 42. Psalm. Zunächst singen zwei hohe Stimmen (vorbildhaft insoweit für de La Rues Requiem) in kanonisch anmutenden, aufwärtsstrebenden Linien von der Sehnsucht nach Gott. Der Vers „Sitivit anima mea“ überträgt dieses musikalische Bild in die tiefe Lage. Im Vers „Fuerunt mihi lacrimae meae panes“ beginnen erneut die beiden hohen Stimmen. Sie nehmen ein eindringliches Repetitionsmotiv des Anfangs auf, doch fehlt das kanonische Element. Hinzu tritt der Tenor, der indes nur Bruchstücke des Textes einwirft. So entwickelt sich ein Terzett, in dem, von den Kadenzen abgesehen, immer nur zwei Stimmen gleichzeitig erklingen und die dritte schweigt. Es scheint, als bleibe jede Stimme allein und habe wie der Psalmsänger in der Einsamkeit den Spott der anderen zu ertragen, die da rufen: „Ubi est Deus tuus?“ – wo bleibt dein Gott?

Das Offertorium "Domine Jesu Christe" als letzter Satz in der Ockeghemschen Komposition ist gänzlich den tiefen Stimmen vorbehalten, womit sich auch ein klangliches Gesamtkonzept auftut, daß die Musik in die Tiefe wandern läßt. Die vier Stimmen setzen in drei verschiedenen Metren ein, die sich im Verlauf des Satzes noch weiter wandeln und eine ungeheure Komplexität erreichen. Es scheint, als ob Ockeghem den Text von Hölle und Abgrund in der verworrenen Metrik (die in der originalen Mensuralnotation nur schwer zur entwirren ist) abbilden wollte, aus der sich dann die Anrufung des heiligen Michael, der die Toten ins Licht bringen soll, im tempus perfectum, dem musikalischen Abbild des Himmlischen, erhebt. Einen unmittelbaren Textbezug haben auch die wilden Bewegungen der Baßlinie bei "poenis inferni" (Qualen der Hölle).


Heinrich Finck wurde wahrscheinlich 1444 oder 1445 in Bamberg geboren. Er hat seine Lehrjahre wohl in Polen an der Hofkapelle in Krakau bzw. Warschau absolviert. Darauf lassen jedenfalls Bemerkungen seines Großneffen, Hermann Finck in dessen Practica Musica von 1556 schließen, in der es weiter heißt, dass er bereits in den 1480er Jahren als Meister berühmt gewesen sei. Er hat nach einem kurzen Studienaufenthalt in Leipzig dann einige Jahre am polnischen Hof in Krakau als Kantor gewirkt. Sein dortiges Wirken unterbrach er 1490, um am ungarischen Königshof eine Stellung anzunehmen, die er jedoch wieder aufgab. 1509 wird er dann erstmals in Stuttgart erwähnt, wo er, wohl angezogen vom Mäzenatentum des dortigen Herzogs Ulrich von Württemberg, mit einem außergewöhnlich hohen Jahresgehalt Kapellmeister der herzoglichen Kapelle wurde. Nach deren Auslösung 1514 wurde er wahrscheinlich Mitglied der kaiserlichen Hofkapelle. Später steht er in Diensten des Salzburger Domkapitels, dann am Schottenkloster in Wien, wo er die Kantorei mit aufbaut und schließlich wird er Kapellmeister der Hofkapelle Ferdinands I.

Finck gilt als der erste deutsche Meister der Musik. Nicht nur in der erwähnten Schrift seines Großneffen, sondern auch in anderen Traktaten der Zeit wird er gerühmt, so etwa in den Musice active micrologus des Ornithoparchus (Leipzig 1517), wo er als einziger deutscher Komponist zusammen mit Ockeghem, Tinctoris, Agricola und Josquin in einer Reihe mit den bedeutendsten Frankoflamen der Zeit genannt wird.

Seiner Missa „Ave praeclara“ liegt die gleichnamige Sequenz zugrunde. In den einzelnen Meßsätzen verbindet Finck deren unterschiedliche Strophen, die als cantus firmus erklingen, mit wiederkehrenden Melodiefragmenten des Sequenzbeginns, wodurch sich ein musikalischer Zyklus bildet, der ganz in der frankoflämischen Tradition steht. Die Messe dürfte zum Spätwerke des Komponisten gehören. Er benutzt in einer Synthese die verschiedensten stilistischen Mittel, etwa längere zweistimmige Imitationen in unterschiedlichen Registern, die sich dann zu klangstarken fünfstimmigen Schlüssen verbinden, enggeführte Imitationsketten, Kanons, rasch bewegte Schlußsequenzen, oder auch Homophonie an Textstellen (Et in carnatus est), die eine besondere Eindrücklichkeit erhalten sollen.


 

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